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 Betreff des Beitrags: Łódź
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 10:02 
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Wohnort: Krakau, Polen
Am letzten Wochenende war ich mit meiner Frau in Łódź.

Normalerweise verwende ich ja bei den polnischen Städten immer die deutsche Bezeichnung, aber bei einer Sonderzeichendichte von 75 % mache ich dann gerne eine Ausnahme. :ugly: So unaussprechlich ist es eigentlich auch gar nicht. Das "Ł" wird wie das englische "w" ausgesprochen, also wie bei "Wow". Das "ó" ist einfach ein "u" und das "dź" wie ein weiches "tsch", etwa bei Matsch, nur eben Hessisch ausgesprochen, wodurch ich als alter Hesse natürlich ein paar Vorteile habe. Der Name heißt übersetzt Boot, es ist aber nicht genau geklärt, wie er entstanden ist. Hätten wir das also geklärt. :mrgreen:

Kommen wir zur Geschichte der Stadt, ganz kurz viel zu lang erzählt. Im Mittelalter gegründet, aber unter ferner liefen, fing es mit der Industrialisierung erst so richtig an. Und wie. Gab es 1800 nur 190 Einwohner, waren es um 1900 schon 314.000 Menschen. :shock: Łódź war das Manchester des Ostens, ein Zentrum der Textilindustrie. Quadratkilometer voller Fabriken und Arbeitersiedlungen im roten Backstein, dagobertduckige Fabrikanten und Einwanderungsbewegungen aus ganz Europa. Im Sozialismus wurde die eigentliche, multikulturelle Vergangenheit der Stadt negiert und Łódź zur Musterarbeiterstadt erklärt. In den Fabriken ging es also weiter, aber die Bedingungen waren alles andere als gut. Ablenkung bot nur die Filmfabrik: Die Filmhochschulen und die Trickfilmstudios der Stadt sind die besten in ganz Polen, Roman Polański und Andrzej Wajda dürften die international bekanntesten Absolventen sein.

Und dann kam die Wende und damit das Ende von Łódź. :yessad: Keine andere Stadt Polens hatte so große Probleme, die Arbeitslosigkeit stieg auf unfassbare Zahlen, eine Fabrik nach der anderen ging pleite, die Fabriken und Fabrikantenpaläste verfielen, in Polen hatte die Stadt den Ruf, die Hauptstadt der Menele zu sein. Menel ist ein etwas liebevolleres Wort, entspricht aber ungefähr dem deutschen Penner. Liebevoll war aber hier aber erst mal gar nichts, sondern hart, arm und perspektivlos. Wer konnte, floh aus der Stadt. Wer blieb, trank. :yessad:

Was also machen in dieser Situation? :ka: In den letzten Jahren spielte Identitätspolitik und eine Anküpfung an die glorreiche Vergangenheit eine große Rolle, etwa mit dem Festival der vier Kulturen (polnisch, deutsch, russisch und jüdisch). Auch wirtschaftlich sieht es viel besser aus, mit wohldurchdachten Investitionen und Plänen. Inzwischen sind neben der Filmhochschule viele IT-Startups tätig, insbesondere im Bereich Computerspiele, außerdem weitere Zukunftstechnologien, aber auch Mode, Design und Kunst. Ich war das erste Mal vor etwa zehn Jahren in Łódź und konnte letztes und dieses Jahr meinen Augen nicht trauen. Kein Wunder, dass die Stadtpräsidentin bei den letzten Kommunalwahlen mehr als 70 % erhalten hat. Was besonders interessant und schön ist: Łódź ist wieder eine multikulturelle Stadt geworden, mit sehr vielen Russen, Ukrainern und Weißrussen, aber auch sehr vielen Amerikanern, die hier eine Hipsterheimat gefunden haben.

Kommen wir zu den Fotos. Anfangen möchte ich mit den Murals, die beim Thema Identitätspolitik eine große Rolle gespielt haben und spielen. Mehr als 700 gibt es, anfangs noch von Nachwuchskünstlern der heimischen Kunstakademie, inzwischen sind nicht nur die besten polnischen Künstler vertreten, sondern auch viele internationale Stars. Es gibt Stadtführer, die sich auf die Murals spezialisieren und Touristen, die eigens deswegen aus der ganzen Welt anreisen. Bei der Touriinfo bekommt man eine Karte mit den 170 besten Murals.

Das erste Mural ist meiner Meinung nach jetzt nicht unbedingt das künstlerisch gelungenste, zeigt aber 31 wichtige Persönlichkeiten der Stadtgeschichte und somit diese Identitätsgeschichte, die für die Stadt ja so wichtig ist. Krzysztof Jaśkiewicz heißt der Künstler, "Zasłużeni dla Łodzi" (schwer zu übersetzen: Sich um Łódź verdient gemacht Habende).


#1

An einem mehr als halb verfallenen, aber bewohnten Mietshaus das Werk "Łasice kradną jajka" (Wiesel stehlen Eier) des belgischen Künstlers Roa.


#2

Hier ist ein Übertrag der beiden Gemälde "Narodziny dnia" (Die Geburt des Tages) und "Ptaki w raju" (Die Vögel des Paradieses) des Künstlers Wojciech Siudmak auf die Fassade zu sehen.


#3

Ein Gemeinschaftswerk von Zwillingen aus Brasilien mit dem Künstlernamen Os Gemeos und dem Spanier Aryza, das aber keinen Namen hat.


#4

Hinter der Spiegelmosaikfassade steckt eine traurige Geschichte: Die Künstlerin Joanna Rajkowska wollte mit der "Pasaż Roży" (Passage von Róża) zeigen, wie ihre Tochter die Welt sehen muss. Sie hatte einen Tumor in der Netzhaut des Auges.


#5

Das Mural heißt "After the call" und stammt vom russischen Künstler Morika.


#6

Eines der bekanntesten Murals von Łódź und sicher auch eines der schönsten: "Primavera" von Przemysław Blejzyk, mit dem Künstlernamen Sainer.


#7

Das titellose Mural von oben noch einmal aus anderer Perspektive und ein bisschen später am Abend.


#8

Das recht kleine Mural der polnisch-kanadischen Künstlerin Anya Mielniczek ist bei der OFF Piotrkowska zu finden, einem Kunst- und Clubort. Es heißt "Szlachetne gatunki" (Wertvolle Gattungen) und spielt auf die Pilzsammelleidenschaft der Polen an.


#9

Das vorerst letzte Mural trägt den Titel "Murcia" und stammt vom spanischen Künstler Carlos Callizo Gutierrez. Es kam anlässlich des Jubiläums der Städtepartnerschaft mit der gleichnamigen Stadt in Spanien an die Wand und gefällt mir ganz besonders gut.


#10

Ich finde es ziemlich schwer, Murals gut zu fotografieren. :yessad: Immer ist etwas im Weg, das Licht kommt oft aus der falschen Richtung und man weiß nicht so recht, was man abschneiden soll. Hinzu kommen oft unvermeidbare stürzende Linien, die man nicht immer hinbekommt. Wollt Ihr trotzdem noch mehr sehen? :mrgreen:

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Zuletzt geändert von mein Krakau am Sa 20. Jun 2020, 09:35, insgesamt 8-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: Murals in der Unaussprechlichen
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 10:19 
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mein Krakau hat geschrieben:
[...]Wollt Ihr trotzdem noch mehr sehen? :mrgreen:

Immer her damit. Und auch vielen Dank für die erklärende Einleitung :2thumbs: Der Bildungsauftrag des Forums ist erfüllt xd

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 Betreff des Beitrags: Re: Murals in der Unaussprechlichen
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 12:12 
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Schraat hat geschrieben:
mein Krakau hat geschrieben:
[...]Wollt Ihr trotzdem noch mehr sehen? :mrgreen:

Immer her damit. Und auch vielen Dank für die erklärende Einleitung :2thumbs: Der Bildungsauftrag des Forums ist erfüllt xd

Das sehe ich genauso, also bitte noch mehr Murals aus der Stadt. :ja:
Mir gefallen deine Bilder, es ist schwer Wandgemälde zu fotografieren aber das macht auch den Reiz der Aufgabe aus.

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Mit einem freundlichen Gruß
Clemens


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 Betreff des Beitrags: Re: Murals in der Unaussprechlichen
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 12:22 
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Klasse :bravo: :bravo: :bravo: Ich liebe ja diese Art der Kunst. Die von Dir beschriebenen Probleme beim Fotografieren kenne ich gut, Du hast Sie aber super gemeistert :2thumbs:

Und JA, bitte mehr :thumbup: :thumbup: :thumbup:

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Walter

Kritik ist erwünscht, auch negative (solange Sie konstruktiv ist) nur so kann man lernen! :2thumbs:
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 Betreff des Beitrags: Re: Murals in der Unaussprechlichen
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 12:45 
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Also die #3 find ich genial! Das Wandbild selber, aber auch deine Fotografie davon! Ganz grose Klasse!

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Viele Grüße
Christoph


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 Betreff des Beitrags: Re: Murals in der Unaussprechlichen
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 13:14 
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Schraat hat geschrieben:
mein Krakau hat geschrieben:
[...]Wollt Ihr trotzdem noch mehr sehen? :mrgreen:

Immer her damit. Und auch vielen Dank für die erklärende Einleitung :2thumbs: Der Bildungsauftrag des Forums ist erfüllt xd


Das sehe ich genauso.

Ich habe u.a gelernt, dass "Lodsch" eigentlich "Wudsch" heißt und wir mit Vicky Leandros jahrelang falsch gesungen haben ').

Aber im Ernst: Vielen Dank für die vielen Hintergrundinfos - man kann im Leben nie zuviel lernen.

Auch wenn es künstlerisch nicht das stärkste sein soll, gefällt mir die # 1 am besten.

Die # 5 bekommt durch die Erläuterung erst eine richtige Bedeutung. Vielen Dank.

_________________
Gruß, Elke


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 Betreff des Beitrags: Re: Murals in der Unaussprechlichen
BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 15:24 
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Freut mich, wenn‘s gefällt. :) Weiter geht‘s ...

Zum 800. Jubiläum des Dominikanerordens sind einige Murals mit blauen Vögeln entstanden, den Auftakt machen Ola Adamczuk und Paulina Nawrot mit der "Wizja św. Dominika" (Vision des Heiligen Dominikus).


#11

Allein hat sich Paulina Nawrot mit der Umsetzung des Ordensmottos beschäftigt: "Contemplare et contemplata aliis tradere" (sich der Kontemplation widmen und die Frucht der Kontemplation weitergeben).


#12

Ein absolutes Highlight fanden meine Frau und ich Łukasz Bergers Werk "Cisza" (Stille), das aus 1.300 verschieden langen Metallstäben besteht.


#13

Inti aus Valparaiso (Chile) hat sich mehrmals in Łódź verewigt, hier mit dem "Święty wojownik" (Heiliger Krieger).


#14

Aus China kommt der Künstler DALeast, der in der Stadt auch schon mehrmals beauftragt worden ist. Dieses Werk trägt keinen Titel, wird aber meist Hirsch genannt.


#15

Als nächstes kommt ein Sgraffito, eine Spezialität von Vhils aus Portugal. Durch die mit Hammer und Meißel in den Putz gehauenen Strukturen sind seine Murals noch vergänglicher als sowieso schon. Auch hier gibt es keinen offiziellen Titel.


#16

Mal wieder blaue Vögel, diesmal von Karolina Tłuczek und Konrad Koch. Ihre "Orły" (Adler) sind allerdings extremst schwer zu fotografieren. Musste auf ein Fensterbrett klettern und mich in die Nische quetschen. Aber der Anblick ist einmalig. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie sie es hinbekommen haben, dass die Adler so plastisch aussehen, als ob sie vor der Wand fliegen würden statt draufgemalt zu sein.


#17

Den Künstler von der #18 kennen wir von seinen Krakauer Murals. Er heißt Mikołaj Rejs und ist auch Fotograf. Sein farbenfrohes Mural in Form einer riesigen Schublade trägt keinen Namen.


#18

Der Brasilianer Eduardo Kobra hat sich mit seinem bunten Werk "Rubinstein" den berühmten Sohn der Stadt vorgenommen, den Pianisten Artur Rubinstein.


#19

Das letzte Mural habe ich nur dreckig aus der Tram geschossen und auch noch stark gecroppt. Es stammt vom Portugiesen Bordallo II, heißt "Jerzyk" (Mauersegler) und ist Teil seins weltweiten Projekts "Big Trash Animals".


#20

Die Tage geht es weiter mit roten Backsteinwänden, Skulpturen, Fabriken, Fabrikantenpalästen, Bahnhöfen, Hotels, einem Friedhof und dem Palmengarten. :warten:

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BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 19:52 
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Eine schöne Fortsetzung!
Deine Bilder #15 und #19 und auch den heiligen Krieger finde ich sehr gelungen.

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Mit einem freundlichen Gruß
Clemens


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BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 20:12 
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Sehr spannend, was du uns da präsentierst!
Die Stadt hatte ich seither nicht wirklich zur Kenntnis genommen - danke für deine Erläuterungen.

Aus der zweiten Serie ist für mich auch die #13 das highlight; aber insgesamt ist diese Ansammlung wirklich beeindruckend.

Ich freu mich auf noch mehr Ansichten aus dieser Stadt!

_________________
Schöne Grüße
Christoph


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BeitragVerfasst: Mo 15. Jun 2020, 20:13 
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Sehr schöne Serie, gefällt mir sehr gut.
Und erinnert mich an Berlin, nur schicker....
Grüße Alex


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