Di 1. Nov 2016, 10:38
Dann erzähle ich Euch heute eine Kindergeschichte. Eine Geschichte über georgische Kinder. Die folgenden Bilder sind auch schon länger auf der Platte. Und da hätten sie auch bleiben sollen, weil ich damit nicht zufrieden war. Nun ja, auch hier ist es so, dass das Gesehene mich damals sehr beeindruckt hat. Vielleicht gelingt es doch noch mit den Bilder die Situation und Stimmung zu transportieren.
Aufgenommen wurden sie am Nationalfeiertag, wiederum in Tbilisi. Die Georgier feierten ihr 25. jähriges Jubiläum der Unabhängigkeit (von der UdSSR). Im Zentrum von Tiflis waren viele Straßen für Autos gesperrt, eine einzige, große Fußgängerzone. Ein paar Bilder hiervon habe ich ja schon gezeigt. Viele Straßenmusikanten, viele Bühnen, Blumenverkäufer. Und ja, überall EU-Fahnen, Fähnchen und sonstige Habseligkeiten mit den europäischen Sternen drauf.
Ich schlenderte zunächst durch die engen Gassen von "Old Tbilisi" um dann irgendwann am Freiheitsplatz anzukommen. Zu Zeiten der UdSSR hieß dieser übrigens "Leninplatz". Er bildet das Ende der Flaniermeile "Rustaveli-Straße". Bis 1990 stand in der Mitte des Platzes auch eine große Leninstatue. 2006 wurde dann ein Freiheitsdenkmal errichtet, oben drauf der Schutzheilige der Georgier, der heilige Georg. Ein geschichtsträchtiger Platz. 1956 wurden hier Studentenunruhen von sowjetischen Panzern im "Massakter von Tiflis" blutig niedergeschlagen (man sieht, die Georgier rebellierten schon einigermaßen früh gegen die sowjetischen Besatzer). Einige Jahrzehnte früher, nämlich 1907, war der Platz schon einmal Schauplatz einer aufrührerischen Tat. 40 Menschen verloren ihr Leben, als eine räuberische Bande einen aus zwei pferdebespannten Panzerwagen sowie einer kleinen Abteilung berittener Kosaken bestehenden Geldtransport der russischen Staatsbank überfiel und 250.000 Rubel (entsprach in etwa der Apanage, die der russische Zar Nikolaus II. zu jener Zeit jährlich erhielt) erbeutete. Mittäter war ein gewisser Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der berühmteste aller Georgier, besser bekannt unter dem Namen Josef Stalin. 2003 strömten zehntausende Georgier auf diesen Platz um gegen die Regierung Eduard Schewardnadses zu protestieren, der schließlich von dieser sogenannten "Rosenrevolution" zu Fall gebracht wurde. 2005 hielt hier George W. Bush eine Rede zum 60. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs. George W. Bush genoß bei den Georgiern (anders als bei uns Deutschen

) übrigens einen hervorragenden Ruf, war er es doch, der Georgien die Mitgliedschaft in der NATO versprach. Die große Zubringerstraße vom Tifliser Flughafen in die Stadt heißt heute noch George W. Bush Avenue und zeigt sein Konterfei auf einem großen Plakat. Wie so oft platzten die Träume der Georgier und erwiesen sich als Illusion. Kriegsherr Putin hat den Eintritt Georgiens in die NATO durch seine Kriege auf georgischem Staatsgebiet erfolgreich verhindert.
Tiflis lag geostrategisch schon immer günstig (man ist versucht zu sagen "ungünstig"!), nämlich auf der sagenumwobenen Seidenstraße. Händler aus dem Morgenland brachten wertvolle Stoffe, Gewürze und vieles mehr nach Tiflis, wo es von jüdischen Händlern aufgekauft und von dort aus nach Europa weiterbefördert wurde. Ein wichtiger Knotenpunkt und Umschlagplatz also. Daraus resultiert im Übrigen, dass Tiflis bis heute eine äußerst multikulturelle Stadt ist. Man findet dort eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche binnen weniger Meter nebeneinander stehend und seit Jahrhunderten stört sich keiner daran. Was einerseits dann doch wieder erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie oft man sich gegen muslimische Eroberer behaupten musste (oder auch unterlag). Allein Tiflis wurde 30 mal (!) zerstört und musste 30 mal wieder aufgebaut werden. Das ist auch der Grund, warum man keine wirklich alten Häuser (außer den Kirchen) dort vorfindet, wenngleich das "alte Tiflis" hinsichtlich seines Aufbaus mit seinen engen Gassen dann doch irgendwie einer mittelalterlichen Stadt gleicht.
Nun denn, Georgien ist ein Land, das von seiner Fläche her genauso groß ist wie Bayern, umgeben von mächtigen Nachbarn. Man denke nur an das osmanisches Reich oder auch das russische Zarenreich. 2008 führte man den letzten großen Krieg gegen Russland, den man (natürlich) nicht gewinnen konnte. Viele Georgier ließen ihr Leben gegen Putins Armee. Bis heute ein Trauma. Fast ein Viertel des georgischen Staatsgebiets ist seither russisch besetzt. Die russischen Soldaten stehen auf georgischem Boden und verwehren vielen Georgiern den Zutritt zu ihren Heimatstätten. Auch ausländische Besucher (so z.B. ich) können diese Militärsperren nicht passieren. 2008 bombardierten russische Kampfflugzeuge bis in die Vororte von Tiflis hinein und man erwartete die Einnahme der Stadt – des ganzen Landes – durch Putin.
Ein langer Vorlauf... Es gehört jedoch regelrecht zum Bild zu wissen, dass Georgien immer ein Spielball der Mächtigen war (und wohl bis heute geblieben ist). Georgien musste immer für seine Freiheit kämpfen.
Zurück zum Nationalfeiertag. Am Freiheitsplatz präsentierten sich nun an diesem Tag die Garanten der Freiheit: das georgische Militär. Auch stark präsent: die US Army mit ihrem Kriegsgerät. Das sind die Bilder, die sich mir seither ins Gedächtnis eingebrannt haben.
Kinder auf Panzern.

#176
Kinder mit Blumen am Gewehr

#177
Mädchen, die ihre Puppen gegen Kanonen eintauschen

#178

#179
Ob sie denn wissen, dass aus dem Spiel schnell bitterer Ernst werden kann? Ich fürchte: ja.

#180
Es war mehr als kindliche Neugierde und kindliches Spiel, was sich hier zutrug. Am Platz versammelt war diverses, schweres Kriegsgerät. Die Kinder konnten ihre Begeisterung dafür nicht zügeln. Ein im wahrsten Sinne des Wortes denkwürdiges Schauspiel, das sich mir hier darbot. Die amerikanischen Soldaten führten liebevoll ihre Granaten vor und erklärten den kleinen ihr Handwerk.
Auf dem Rückweg zum Hotel fiel sie mir dann wieder auf, dieses mal jedoch in aller Deutlichkeit, die "Kartlis Deda", die ქართლის დედა, die Mutter Georgiens.

#181
Sie schaut auf die Stadt, hält eine Schale Wein (man erinnere sich, Georgien ist das Land des Weines) für die Freunde in der linken Hand und ein mächtiges Schwert gegen die Feinde in der rechten. In der Nacht wird die Statue von Scheinwerfern hell ausgestrahlt und ist somit Tag und Nacht für jeden Georgier sichtbar. Auf dass man sie nie vergessen möge! Nicht am lichten Tag und nicht im dunkelsten Traum. Sie thront auf einem der zahlreichen Erhebungen über Tiflis. Groß und Klein wird somit tagtäglich von dieser Monumentalstatue daran erinnert, dass man sich seiner Feinde erwehren muss, dass jeder seinen Dienst fürs Vaterland zu entrichten hat. Dass jeder bereits sein muss, dafür sein Leben zu geben. Was Hollywood als "Endzeitfilme" künstlich zum Amüsement von Millionen alljährlich inszeniert, ist für die Bewohner dieses kleinen Landes keine Fiktion und spukt wohl alltäglich irgendwo in ihren Köpfen herum.
Was uns im sicheren Westen so fern erscheint, ist bei den Georgiern tief im Bewusstsein verankert. Es gehört - modern gesprochen - zur DNA der Georgier. Man lehrt es schon früh den ganz Kleinen.
Und so träumt wohl auch dieser Junge davon: Wenn ich groß bin, möchte ich sein wie mein Vater!

#182
Soldat.
Es ist nun eine lange Geschichte geworden, die ich Euch hier serviert habe. Eine Geschichte, die ich ob der Fotos eigentlich nicht vor hatte zu erzählen. Dennoch ist es eine Geschichte, die mich aufgrund des Gesehenen beeindruckt hat. Ob ich es vermitteln konnte, weiß ich nicht. Ich hoffe es dennoch. Nun ist sie also auch Teil dieses Threads und der ganzen Erzählung.
Ach ja, Kinder traten an diesem Tag auch in anderer Gestalt auf. So hatte man z.B. auch einige Gastländer, die mit Tradition zum Gelingen des Nationalfeiertags beitrugen, eingeladen. Z.B. diese kleinen Ukrainerinnen, die stolz und mit Freude (die meisten zumindest

) ihre Nationaltänze aufführten. Mögen die Georgier und die Ukrainer auch noch so verschieden sein, eines eint sie dann doch: Beide Länder sind von fremden Truppen besetzt und beide sind bereit mit allem was sie haben, sogar dem wertvollsten, ihren Kindern, gegen die neuerliche Gefahr zu kämpfen.

#183
Wie sehr ich ihnen für Ihre Zukunft wahre Kinderspiele wünsche.
Zuletzt geändert von zeitlos am Mi 29. Jun 2022, 13:32, insgesamt 7-mal geändert.