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 Betreff des Beitrags: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Mi 2. Jul 2014, 19:09 
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Vorletzte Woche kam eine Einladung zu einem Familientreffen im Friaul für Sonntag, der ich trotz etwas ungünstiger Vorzeichen (Abiball meiner Tochter am Vorabend :party: ) gerne Folge leistete, hatte ich doch einige meiner Cousins und Cousinen seit teilweise mehr als 30 Jahren nicht gesehen. Ich nahm mir vor, ein paar Ecken da unten aufzusuchen, die ich irgendwie bei all den Reisen dorthin verpasst hatte.

In weiser Voraussicht noch Montag und Dienstag Urlaub eingetragen und nach einer sehr kurzen Nacht ab in den Süden. Die Fahrt verlief trotz Schlafmangel kurz und gut und das Mittagessen war allererste Sahne. Der Rest des Sonntags verliert sich dann im Dunst von Frizzantino und ein paar "caffé corretto". Wenigstens war ich nüchtern genug, mich für den nächsten Tag mit einem der Cousins in Aquleia zu verabreden, das auf meiner Besichtigungsliste stand.

Nach einer friedlichen Nacht brach ich am Montag von Latisana nach Precenicco auf, dem kleinen Ort, in dem meine italienischen Großeltern lebten und mein Vater (mit seinen fünf Geschwistern - am Sonntag waren dann auch gut 30-40 Leute beim Familientreffen) aufwuchs. Precenicco liegt in der Friulanischen Ebene rund 10km von der Adria entfernt. Ein eher langweiliger Landstrich, geprägt von Feldern und Bewässerungskanälen mit großen, teilweise verlassenen Bauernhöfen und kleinen Dörfern.

Hier ein solcher typischer Bauernhof (verlassen) in der flachen Landschaft:

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#1

Precenicco selbst ist touristisch weitgehend uninteressant, obwohl dort die ältesten menschlichen Überreste im gesamten Friaul gefunden wurden. Bereits vor rund 6.000 Jahren siedelten Menschen am Ufer des Flusses Stella, die neben vielen Fundstücken in Form von bearbeitetem Feuerstein auch ein intaktes Kindergrab hinterliesen. Die Fundstücke werden in der "Casa del Marinaretto" aufbewahrt, einem denkmalgeschützten Bau am gegenüberliegenden Flussufer und - wie ich finde - recht ansprechenden Fotomotiv:

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#2

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#3

Das nächste Bild hat keinerlei künstlerischen Anspruch, für mich aber eine ganz persönliche Bedeutung:

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#4

In dem Haus befand sich bis vor rund 20 Jahren eine "Bar". Das sind in Italien Kneipen, die morgens um 7 öffnen, Getränke vom Kaffee bis zum Schnaps, kleine Snacks und vor allem die Möglichkeit bieten, sich zu treffen und zu unterhalten. In dieser speziellen Bar gab es außerdem noch sehr leckeres "Gelato" und der Wirt war eine Seele von Mensch, bei dem sich die gesamte Dorfjugend traf. Genau vor dieser Bar, mit der Stuhllehne an die Wand gelehnt, saß ich am späten Vormittag des 15. September 1976 und schleckte mein Eis. Im Mai des Jahres hatte ein schweres Erdbeben große Schäden in der Region angerichtet und an jenem Septembertag gab es um 5 Uhr Morgens ein weiteres starkes Beben, das ich aber fast verschlafen hatte. Außer großer Aufregung war nichts los und so saß ich da vor der Bar, als um 11:30 die Erde erneut zu beben begann. Was dann folgte, werde ich nie im Leben vergessen: die Welt schien aus Gummi zu sein, der Asphalt bewegte sich in Wellen von rund 30cm Höhe, die rund 10-15 Meter hohen Pappeln um die Piazza peitschten hin und her und berührten mit den Spitzen den Boden, der Kirchturm schlug mehrere Meter weit aus. All das war so dermaßen unwirklich und unglaublich, dass ich einfach an der Hausmauer angelehnt blieb (gottseidank kam das Dach nicht herunter - es hätte mich sicher erschlagen) und - vermutlich mit offenem Mund - das Spektakel geradezu genoss. Angst hat man in einer solchen Situation einfach nicht..... Das Beben hatte übrigens eine Stärke von 6,0 und das Epizentrum war nur rund 40km entfernt.

Das alles ging mir am Montag um 8 Uhr Morgens durch den Kopf, als ich mir Capuccino und "Cornetto" in der Bar genehmigte. Dort wird übrigens nicht nur Bier frisch gezapft:

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#5

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Grüße aus dem Süden

Alfredo


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Mi 2. Jul 2014, 19:27 
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Auf dem Weg nach Aquileia machte ich noch einen kurzen Abstecher nach Marano, einem Fischerdorf an der Lagune. Der Ort unterstand dem Patriarchen von Aquleia, der dort auch den seit 1066 in amtlichen Urkunden erwähnten Turm (vermutlich als Wachtturm) erbauen ließ, der heute das Wahrzeichen des Ortes ist. Im 15. Jahrhundert ging Marano an die Republik Venedig, die den Ort befestigen ließ - zur Sicherung der Seewege nach Istrien und Dalmatien. Aus der venezianischen Zeit stammen noch einige Bauwerke, unter anderem das Haus des Festungskommandanten. Interessanterweise ist Marano der einzige Ort im weiteren Umkreis, in dem kein "furlan" gesprochen wird, der an das ladinische erinnernde Dialekt des Friaul. Stattdessen sprechen die "Eingeborenen" heute noch ein archaisches Venezianisch.

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Grüße aus dem Süden

Alfredo


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Mi 2. Jul 2014, 20:26 
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Dann ging es weiter nach Aquileia. Ein interessanter Ort mit spannender Geschichte, den komischerweise kaum jemand kennt.

181 v.Chr. von Rom zur Sicherung der Grenzen nach Osten gegründen und mit 3.000 Veteranen nebst Familien besiedelt war die Stadt um die Zeitenwende die viertgrößte Italiens, Ausgangspunkt von Feldzügen des großen Julius, Schauplatz von Kaisermorden und von der Antike bis zum Hochmittelalter eines der wichtigsten Zentren der Christenheit. Wer mag, kann sich dazu den Wikipedia-Eintrag zu Gemüte führen, sonst muss ich hier mehrere Seiten füllen: http://de.wikipedia.org/wiki/Aquileia

Weniger antik und nicht sonderlich heilig, aber deshalb nicht weniger interessant ist die Tatsache, dass Aquleia die beste Grappa-Distillerie diesseits von Alpha Centauri beherbergt. Trotz der frühen Stunde konnte ich diesem Schild nicht widerstehen

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#11

und fand mich gleich darauf im Wunderland des kleinen Säufers wieder (das Bild ist nur ein kleiner Ausschnitt der dortigen Verlockungen!):

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#12

Leider konnte ich den Ausführungen des Chefs, der den einzigen Kunden persönlich bediente, hinsichtlich der Einflüsse von Rebsorten, Brennvorgang und Lagerung auf den Geschmack des Endprodukts nicht so ganz folgen. Deshalb stellte sich eine Verkostung als unumgänglich heraus! :hmm: Leicht beschwippst, mit 4 Flaschen Grappa und 2 Kartons Wein im Kofferraum konnte ich mich dann endlich den kulturellen Genüssen widmen. Davon aber morgen mehr, jetzt brauche ich einen Grappa :d&w:

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Grüße aus dem Süden

Alfredo


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Mi 2. Jul 2014, 20:35 
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Deine sehr gute Beschreibung des miterlebten Erdbebens, hat bei mir Gänsehaut ausgelöst.
Zum Glück nicht die Mehmet-Scholl-Variante :mrgreen:

Die Bilder sind natürlich auch Klasse :thumbup:

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VG, Arno


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Mi 2. Jul 2014, 21:47 
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Einen feinen Einblick gibst Du hier. Wenn man so ein Erdbeben nicht selber erlebt hat, kann man sich die Kräfte nicht vorstellen. Mir hat es in den 70er schon gereicht, als es in der Eifel bebte und Berlin die Deckenlampe zitterte. Das lag wohl eher im Promillebereich von dem was Du erlebt hast und ich fand das schon unheimlich. Danke für das Stück "Heimatkunde"!

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LG
Lutz


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2014, 07:08 
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Vielen Dank für deine guten Bilder und noch besseren Schilderungen.

Für uns ist diese Gegend mehrmals im Jahr Ausflugsziel, sind ja nur gut drei Stunden Fahrt. Das allgemeine Interesse an Italien nördlich der Strecke Triest-Grado ist leider nicht sehr ausgeprägt, was wirklich ein Fehler ist.

Du erinnerst mich daran, dass ich fast keinen "Sgnape" mehr habe (die abgebildete Destillerie besuche ich regelmäßig und muss immer jede Menge für Freunde mitbringen :cheers: ).

Franz

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"Schärfe ist ein bourgeoises Konzept."
Henri Cartier-Bresson


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2014, 07:39 
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Wow, tolle Geschichte, mit interessanten Bildern aus der Region garniert!

_________________
LG Frank





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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2014, 07:52 
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Schöne Bilder und schicke Geschichte :2thumbs:

Nicht schlecht gestaunt habe ich, als ich gesehen habe, daß die Bilder mit einem A-35mm Objektiv entstanden sein sollen :geek:
Für mich sehen sie nach deutlich mehr WW aus ... 8-)

_________________
Gruessilies Mika
PENTAX _ - ich <3 es - _ (ツ)


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2014, 08:16 
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mika-p hat geschrieben:
Nicht schlecht gestaunt habe ich, als ich gesehen habe, daß die Bilder mit einem A-35mm Objektiv entstanden sein sollen :geek:
Für mich sehen sie nach deutlich mehr WW aus ... 8-)

Die sind auch alle mit dem Samyang 14mm gemacht. War nur zu doof, die richtige Brennweite beim Einschalten der Kamera einzugeben..... :ugly:

Nach dem Abstecher in die Distillerie traf ich mich mit meinem Cousin, musste noch zwei Espresso trinken und schon ging es los. Wir vereinbarten, zuerst einen Abstecher nach Görz zu machen und Nachmittags dann die Tour durch Aquileia.

Görz ist insofern eine interessante Stadt, als sie schon seit dem Mittelalter gleichzeitig von italienischen, slawischen und deutschsprachigen Einwohnern bewohnt wird. Um das Jahr 1000 erstmals urkundlich erwähnt, war die Stadt meist in den Händen bairischer Adelsgeschlechter. Nach einer kurzen Episode venezianischer Besetzung und einem Intermezzo in napoleonischer Zeit gehörte die Stadt ab dem 16. Jahrhundert den Habsburgern und war - zuletzt als "Gefürstete Grafschaft von Görz und Gradisca" - Kronland im Kaiserreich. Im 1. Weltkrieg wurden hier die blutigen Isonzo-Schlachten mit Hunderttausenden von Opfern geschlagen. Nach der österreichischen Kapitulation fiel Gorizia mit Teilen des heutigen Slovenien und Istrien an Italien. Am Ende des 2. Weltkrieges besetzten jugoslawische Partisanen Teile der Stadt und nach dem Krieg wurde Görz im Zuge der Neufestlegung der Grenzen zu einer Art "Klein-Berlin" mit dem italienischen Gorizia und dem jugoslawischen Nova Gorica. Die Italiener platzierten auf dem Görzer Burghügel eine besonders große Tricolore, bis weit nach Jugoslawien hinein sichtbar. Im Gegenzug war (und ist bis heute) auf einem Hügel bei Nova Gorica in riesigen Steinen das Wort TITO zu lesen, in ganz Görz sichtbar.

Insgesamt gestalteten sich die nachbarschaftlichen Beziehungen aber wesentlich entspannter als im geteilten Deutschland und niemand kam auf die Idee, Mauern zu bauen und Selbstschussanlagen zu installieren. Heute kann man entspannt in der ganzen Stadt zwischen Italien und Slovenien pendeln.

Leider machte mir das Wetter einen Strich durch die Fotografenrechnung, denn es setzte Dauerregen ein, als wir in Görz ankamen. Deshalb beschränkte sich die Ausbeute auf ein paar Bilder vom Wahrzeichen der Stadt, der mächtigen Festung auf dem Görzer Burghügen, die ab dem 11. Jahrhundert und mehreren Herren ausgebaut wurde:




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_________________
Grüße aus dem Süden

Alfredo


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 Betreff des Beitrags: Re: back to the roots - In Friûl
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2014, 08:26 
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Beiträge: 3645
Wohnort: Wächtersbach
Hallo Alfredo,

ich habe Deinen Heimatbericht mit großen Interesse gelesen. Wirklich toll geschrieben und bebildert.

_________________
Gruß
Helmut

Das Ärgerliche am Ärger ist, dass man sich selbst schadet, ohne anderen zu nützen
(Kurt Tucholsky)

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