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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 17:02 
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Wohnort: Krakau, Polen
Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte, die sich schon am 5. Dezember ergeben hat. Wenige Fotos, gute noch weniger, dafür zunächst sehr viel Text und viel tiefgehendes Wissen, später dann eine bewegende Begegnung.

Wenn der Krakauer Stadtpräsident davon spricht, dass es unser Flamenco sei, geht es nicht um die traditionelle Musik Krakaus, sondern um etwas anderes. Um etwas sehr Weihnachtliches.

Gemeint sind die szopki, die Krakauer Weihnachtskrippen, von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe der Welt gelistet. Vor, an und nach Weihnachten, eigentlich das ganze Jahr über sind die Krippen präsent im Stadtbild, so natürlich auch im Stadtmuseum.

Dort gibt es eine Weihnachtskrippe in lebensgroß, durch die man spazieren kann.


#1

Im Stadtmuseum sind ab Anfang Dezember bis Ende Februar jedes Jahr auch die zu sehen, die beim Wettbewerb in den verschiedensten Kategorien gewonnen haben. Unterschieden wird nach Alterklassen und nach Größen. Bevor die Gewinner bekanntgegeben und ausgestellt werden, gibt es eine Präsentation der Krippen auf dem Hauptmarkt. Dies ist ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem die Tracht angezogen wird und zu dem viele Filmteams anreisen. Allerdings ist es (für mich) extrem schwer zu fotografieren. Warum? Es herrscht ein Rummel, dauernde Bewegung, man wird unabsichtlich angerempelt, man hat keinen Platz, um einen Schritt zurückzugehen. Wenn man keine Akkreditierung als Pressefotograf hat, wird’s echt problematisch. Von daher haben viele der folgenden Fotos eher einen dokumentarischen Zweck.


#2


#3


#4

Kommen wir zum Inhaltlichen. Was wird auf den Krippen dargestellt, die von Familien, Freunden, Vereinen, Nachbarn, Schulen, Kindergärten, Mönchen und vielen weiteren Gruppen in wochenlanger Arbeit zusammengebaut werden? Im Mittelpunkt steht natürlich die Weihnachtskrippe mit Jesuskind, traditionell sind auch verschiedene Gebäude der Stadt und Legenden zu sehen. Dabei wird es dann schon interessant. Hochgestochen würde man sagen, dass es sich um Dekonstruktivismus handelt, denn die Stadt und Elemente verschiedener Kirchen der Stadt, von Burgen, Palästen oder sonstigen Gebäuden werden neu zusammengebaut. Oft zeigt das dann die Herkunft derjenigen Gruppe, die diese Krippe gebaut hat. Versteckte Hinweise gibt es. Oder Anspielungen auf die unzähligen Krakauer Legenden, die ebenfalls oft neu erzählt werden. Die wehenden Fahnen auf den Turmspitzen sind oft in weiß-rot (die polnischen Farben) und blau-weiß (die Stadtfarben), weisen aber auch auf die unterschiedlichsten Länder, Regionen und Städte hin. Denn nicht nur Krakauer sind es, die die Krippen bauen, sondern auch Polen aus dem ganzen Land oder nach Krakau gezogene Ausländer. Gerne erinnere ich mich an eine sehr interessante Krippe von vor 5 Jahren zurück, die ein italienischer Einwanderer erdacht hatte. Die Krippenszene spielte in einer Walnuss (auf Polnisch heißen die Italienische Nuss). So gibt es jedes Jahr viel zu entdecken und zu entschlüsseln. Oft gelingt es direkt, wobei man als Stadtführer bestimmte Vorsprünge hat, mehr aber noch als Krakauer mit jahrhundertealter Familiengeschichte in der Stadt. Beinahe unmöglich ist es allerdings für Ortsfremde, die sich mit Geschichte, Kultur, Legenden, Traditionen und Tagespolitik Krakaus nicht auskennen.

Schauen wir uns das einmal näher bei der #5 an. Unter anderem wegen der Mondsichel vermute ich, dass das dargestellt ist, bin mir dabei sogar sehr sicher. Es war das Haus eines nach Krakau gezogenen Offiziers der osmanischen Armee in der Türkei, ein Pole muslimischen Glaubens, der dann bis 1939 in der polnischen Armee diente. Laut Legende ließ er das Haus Anfang des 20. Jahrhunderts mitsamt Minarett und kleiner Moschee im Innern für seine ägyptische Frau umbauen, die unter Heimweh litt. Es gibt aber auch die Version, dass er selbst gläubig war, aber gar nicht verheiratet. Weitere Anspielungen auf der Krippe: Der Krakauer Drache aus der berühmten Legende reitet auf einem Hund. Dies könnte eine Bedeutung haben, aber ich bin hier überfragt. Auch, dass der Schneemann unter dem Wagen liegt, dürfte eine Aussage sein. Ich vermute einen Bezug auf den Klimawandel, der seit den letzten Jahren ein großes Ding auf vielen Krippen ist. Vor 3 Jahren war zum Beispiel Greta Thunberg auf sehr vielen Krippen zu sehen. Ansonsten gibt es immer wieder lokalpolitische Anspielungen, es geht aber auch um Filme, Fußballereignisse und viele weitere Dinge aus dem persönlichen Leben und dem Alltag.


#5

Weitere Krippen werden stolz präsentiert.


#6


#7


#8

Alle Krippen werden auch auf der dicht umstellten Bühne präsentiert, dabei sind dann auch immer die Gruppen, die an der jeweiligen Krippe gearbeitet haben so wie hier die Kindergärten. Sehr lustig wurde es in diesem Jahr, als der Präsentator einen kleinen Jungen fragte, wer an der Krippe gearbeitet habe. Der Junge fing an: "Mama, Papa, ich." "Also wie bei der Krippe zuvor, eine Familienkrippe", fragte der Präsentator. Die Antwort: "Nein, nein, nicht nur die Familie, sondern auch die Nachbarn und ... meine Schwester." Vor Ort war es lustig, der ganze Hauptmarkt lachte über die aus der Familie ausgeschlossene Schwester.


#9


#10

Auf allen Krippen sind Details zu sehen, man weiß nicht immer, was sie bedeuten. Bei der #11 wahrscheinlich schon. Hier steht: 80. Wahrscheinlich geht es darum, dass es der 80. Krippenwettbewerb ist (die Tradition reicht in verschiedener Form hingegen bis ins 13. Jahrhundert zurück). Es könnte aber auch heißen: zum 80. Mal dabei, 80. Geburtstag einer beteiligten Person, 80. Jahrestag des Vereins der beteiligten Gruppe und vieles mehr.


#11

Nun wird es bewegend. In diesem Jahr war auf beinahe allen Krippen das Thema Ukraine präsent, überall wehten auch ukrainische Flaggen und es gab Hinweise auf die Geschichte, Trachten und Kultur der Ukraine, natürlich auch auf den Krieg. (noch ein kleiner Hinweis am Rande: statt aus dem Morgenland kommen die Heiligen Drei Könige aus Kleinpolen. Links trägt einer die Krakauer Tracht und hat als Gabe das , rechts ist die Tracht der Góralen, der Bergbewohner der Tatra zu sehen, als Gabe bringt dieser König eines der Produkte aus Schafsmilch mit, wahrscheinlich soll es darstellen).

Als ich die Krippe der #12 so begutachtet habe, stand neben mir ein ukrainisches Großmütterchen, wobei ich anfangs noch nicht gewusst hatte, woher sie kommt. Sie war allein und sagte zunächst nichts, die Grippentradition schien ihr aber zu gefallen. Dann passierte es. Ein polnisches Kind stand neben uns, zeigte auf die Krippe und sagte seiner Mutter: „Schau mal, Mama, die Engel kommen aus der Ukraine.“ Und die Mama antwortete: „Ja, aus der Ukraine kommen Engel.“ Die Oma fing plötzlich an zu weinen, stammelte etwas auf Ukrainisch. Keine Ahnung, was ihr durch den Kopf ging. Vielleicht war es nur das kurze Gespräch zwischen Mutter und Tochter, vielleicht dachte sie dadurch an Verwandte, die sie nicht sehen kann, an Gefallene, an ihre Weihnachtstraditionen, die sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht pflegen kann. Vielleicht einfach an ihre Heimat. Die Tränen flossen. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, um ihre Hand zu nehmen und ihr einen aufmunternden Blick zu schenken. Sagen konnte ich nichts, mir fehlten die Worte. Dann musste auch ich mitweinen.


#12

Im ganzen Stadtgebiet werden seit einigen Jahren in der Adventszeit die Preisträger der Vorgängerjahre in Glasvitrinen ausgestellt. Solche Krippen werden auch auf Weltausstellungen, Tourismusmessen und in Wechselausstellungen internationaler Museen präsentiert.


#13

Und irgendwann Mitte Dezember hat es dann auch zu schneien begonnen.


#14

Wie in den Predigten und Ansprachen zur Weihnachtszeit habe ich etwas Bewegendes, Trauriges und Verzweifeltes geschildert, das mich seit dem 5. Dezember nicht losgelassen hat. Ich denke aber auch, dass es wichtig ist, ungeachtet aller Verbrechen, sich eine Auszeit zu nehmen, um für sich und mit seinen Lieben ein frohes Weihnachtsfest zu feiern. Das möchte ich Euch wünschen.

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Zuletzt geändert von mein Krakau am Mo 26. Dez 2022, 10:11, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 17:07 
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... ganz tolle und von dir mit grandioser Info gespickte Bilder :clap: :2thumbs:

NG
Ernst

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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 17:50 
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Was für eine schöne Tradition :2thumbs:
Danke für die schönen Bilder und Geschichten dazu :wink:

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Grüsse Sandra


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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 18:12 
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Ganz herzlichen Dank für die tolle Doku und die vielen Erklärungen. Die Schilderung der Szene mit der ukrainischen Großmutter geht wirklich unter die Haut!

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Viele Grüße von der Leine
Klaus


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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 19:03 
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Sehr interessant. Danke für die Führung.

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LG Bernd

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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 19:53 
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Schöne Info.
Dei Krippen sind aber schon sehr sakral.

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BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 22:17 
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Ist ja irre ... dieser Aufwand ... :shock:

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Gruß Udo

Diese Nachricht wurde mit einer Taschenlampe in das offene Ende eines Glaserfaserkabels gemorst.




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BeitragVerfasst: Mo 26. Dez 2022, 09:05 
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Wohnort: Freiburg
Eine für mich bewegende Kurzdoku. Danke dafür
Ich denke es gibt den Leuten Kraft, an so einem Wettbewerb teilzunehmen. Auch in dieser Zeit.

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Liebe Grüße
Uwe


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BeitragVerfasst: Mo 26. Dez 2022, 09:28 
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Beiträge: 5217
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Lieber Jan,

diese Art von Krippen zu sehen, hat mich fasziniert. Vielen Dank für die Bilder, insbesondere aberfür Deine Erläuterungen dazu.

Die von Dir geschilderte Begegnung ist bewegend. So viel Leid, das gerade über zahlreiche Familien gebracht wird. Das macht mich traurig und wütend gleichermaßen.

Liebe Grüße
Rainer

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Die Optimisten glauben, wir leben in der besten aller denkbaren Welten.
Die Pessimisten glauben, das stimmt.



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BeitragVerfasst: Mo 26. Dez 2022, 09:43 
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Die Begegnung dazu habe ich erst jetzt gelesen. Das hast du gut gemacht. Respekt und Demut machen nicht nur das Weihnachtsfest sondern auch uns als Menschen aus. Vielen Dank dafür.

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