* Man sagt, man solle nicht mit Wut im Bauch schreiben. Doch ich bin wütend und halte mich nicht daran.
* Es heißt, man solle im Internet nicht zu viel Privates über sich veröffentlichen. Doch dies hier wird sehr privat und sehr persönlich, ich halte mich also nicht daran.
* In den Forumsregeln steht geschrieben, dass man sich nicht politisch äußern solle. Ich werde versuchen, es so weit wie möglich zu entschärfen, halte mich aber trotzdem nicht grundsätzlich daran.
* Bei jeder Erziehung geht es auch darum, die Verwendung von Schimpfwörtern einzuschränken, aber dieser Protest ist auch ein derber. Ich werde nur übersetzen, doch bedeutet auch dies: Ich halte mich nicht daran.
* Kluge Menschen empfehlen, sich kurz zu halten und auf den Punkt zu kommen. Ich allerdings halte mich nicht daran.
* Es gilt als gegeben, dass Fotos für sich selbst sprechen sollten. Was soll‘s, ich halte mich nicht daran.
* Man sollte nur seine besten Fotos vorzeigen. Und ich? Ich halte mich nicht daran.
* Zu Zeiten einer Pandemie sollte man soziale Kontakte auf ein Minimum beschränken und öffentliche Versammlungen vollkommen meiden. Auch wenn ich diese Empfehlung nicht zuletzt aus Eigennutz verfolge, halte ich mich in diesen Tagen nicht daran.
Meine Challenge hat das Thema: "Roter Blitz". Es ist ein aktuelles, hochpolitisches und ein sehr persönliches Thema für mich.
Ihr fragt Euch vielleicht: Was ist da los in Polen? Was passiert da gerade? Ich werde versuchen, Euch ein paar Antworten zu liefern. Vielleicht auch Antworten, die Ihr in deutschen Medien sonst nicht finden könnt. Doch womit soll ich anfangen? Am Anfang vielleicht noch chronologisch: Die ersten Motive zeigen den Weg von meiner Wohnung zu den Protestorten.
Die meisten meiner folgenden Fotos haben rein dokumentarischen Wert. Mein Respekt vor politischen Fotografen, die solche Demos zeigen, ist enorm gestiegen. Es gibt aber ein paar Ausnahmen, wo ich auch auf Ästhetik geachtet habe. Die #1 ist so ein Fall (okay, das Plakatraster ist jetzt auch nicht so toll). Das Poster des Frauenstreiks klebt über dem Plakat für eine Fotoausstellung zu Sibirien, die ich mir übrigens anschauen werde, sofern das noch möglich sein wird.
#1
Den Weg zur #2 habe ich ganz bewusst gewählt. Es soll um einie der häufigsten Fragen gehen, die ich als Stadtführer in den letzten Jahren gestellt bekommen haben: „Warum wählen die Polen diese Partei?“ Die deutschen Medien scheinen die Antworten auf diese Frage anscheinend nur unzureichend zu liefern. Was sehen wir an diesem Ort, den ich häufiger auch bei Führungen zeige? Zu sehen ist der Kopf einer Frau, daneben steht: „Wer hat Jula Brzeska umgebracht?“ Dieses Schablonengraffiti ist in ganz Polen zu sehen. Jolanta Brzeska war eine Aktivistin, die sich um Menschen gekümmert hat, die infolge der sogenannten wilden Reprivatisierungen von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt worden sind, darunter auch alte Leute. Jula musste ihr Engagement mit ihrem Leben bezahlen, am 1. März 2011 wurde sie in einem Wald verbrannt, die Täter wurden nie gefasst. Ich kenne Aktivisten aus ihrem Umfeld, die für die aktuelle Regierung gestimmt haben, da das Umfeld der Nutznießer der wilden Reprivatisierungen sich mit dem Umfeld der Vorgängerregierung überschneidet. Doch das ist nicht alles: Noch vor 5 Jahren habe ich gesagt, dass der Alltag des Ottonormalpolen fünfmal schwerer zu meistern ist als der des Ottonormaldeutschen, Arbeitszeiten von 80 Stunden pro Woche mit Zweit- und Drittjob waren und sind keine Seltenheit. Doch es ist besser geworden: Inzwischen erzähle ich meinen Gruppen, dass der Alltag des Ottonormalpolen zwei- bis dreimal schwerer zu meistern ist als der des Ottonormaldeutschen. Die PiS-Regierung hat das umgesetzt, was ich schon vor Jahren gefordert habe: eine Sozialpolitik, etwa mit Kindergeld oder höheren Renten. Und von dieser Sozialpolitik profitieren Arme, Alte und in ländlichen Gebieten Wohnende, kurz: die Wählerschaft der PiS.
#2
Mit der #3 kommen wir zu einer weiteren gesellschaftlichen Institution, der Katholischen Kirche. Zu sehen ist hier ein Wortspiel: „Złodzieje“ bedeutet „Diebe“, „Zło dzieje się” bedeutet „Böses geschieht“. Wir sehen hier an der Mauer der Fronleichnamskirche Kirchenkritik, die ich verstehe, bei der der Pfarrer hinter den Mauern aber nicht versteht, dass er damit gemeint ist. Ich möchte 2 Zitate angeben, das erste von einem deutschen Pfarrer auf Pilgerreise in Polen, das zweite von einem Krakauer Dominikanermönch:
1. „Die Katholische Kirche in Polen widert mich an.“
2. „Die [polnische Katholische] Kirche ist krank. Sie muss vollständig zerstört werden, nur so wird es möglich sein, dass sie wieder gesundet.“
Papst Franziskus soll übrigens ähnlicher Meinung sein.
Bei der #4 und #5 kommen wir zu Solidaritätsbekundungen für die Protestierenden, zum einen vom Jüdischen Gemeindezentrum, zum anderen von einer Boutique. Interessant vielleicht: Ich habe die Route bewusst an diesen beiden Punkten vorbei gewählt. Ich hatte nicht gewusst, dass dort Solidaritätsbekundungen zu finden sein werden, war mir aber sicher.
#4
#5