Und hier ein weiterer, vielleicht noch zeitgemäßerer Auszug, in dem Bezug genommen wird auf "Die Story":
Die Sprache des Spiegel
Was den Spiegel-Text von jeder anderen Fassung des Sachverhaltes unterscheidet, ist aber nicht nur dessen Trübung durch Jargon und verstecktes Vorurteil, sondern auch seine angestrengte Humorigkeit. Der verzweifelte Witz eines Alleinunterhalters ist ihm anzuhören, der um jeden Preis sein Publikum bei der Stange halten muß.
Nun läßt sich über das, was komisch ist, schlecht streiten. Wenn das Magazin etwa über den amerikanischen Schlagersänger Presley schreibt, er sei ein „sextraordinär“ und „transportiere“ seine Zuhörer „von Dixieland nach Kinseyland“ , so ist das zwar miserables Deutsch, aber gewiß nicht ohne eine gewisse Komik, die der Primitivität des Gegenstandes entspricht. Die Zuckungen des Sängers, dem eine elfseitige Titelgeschichte zugedacht ward, „erweckten“, wie Der Spiegel schreibt, „den Eindruck, als habe er einen Presslufthammer verschluckt“. Das schallende Gelächter über derartige Scherze wird fatal, wenn Gide und Claudel, Sartre und Freud durch ihresgleichen charakterisiert werden.
Als in Ostberlin der junge Philosophieprofessor Wolfgang Harich verhaftet wurde, kramte Der Spiegel aus seinem Leben eine Episode mit einer Dame aus Thailand aus und fragte „sich, ob es nun metaphysische oder physische Gründe hatte“, daß er mit der „siamesischen Dame in die Berliner Podbielski-Allee 1 gezogen war“. In solchen Scherzen drückt sich ein Humor aus, der zwischen Zote und Ehrabschneiderei die Mitte hält. Er erinnert an die albtraumartigen Bunten Abende, die vor zwei Jahrzehnten unter dem Motto „Kraft durch Freude“ sich so viele Freunde gewinnen konnten. Neu an ihm sind die Verzierungen: auf solche Art und Weise werden Konsumgüter älterer Konstruktion mit Chromleisten auffrisiert. Wer sich auf die trüben Quellen eines derartigen Gelächters besinnt, der weiß, das die Maxime „Lächerlichkeit tötet“ eine sehr finstere Bedeutung annehmen kann: der Applaus für den Alleinunterhalter schlägt leicht in den Jubel derer um, die Gemälde mit Taschenmessern traktieren und ihren Beifall kundtun, wenn der Totschläger in Aktion tritt.
Was derart den Leser des „Deutschen Nachrichtenmagazins“ unterhalten soll, straft diesen Untertitel Lügen. In der Tat ist Der Spiegel keineswegs ein Nachrichtenblatt. Der redaktionelle Inhalt besteht vielmehr aus einer Sammlung von „Stories“, von Anekdoten, Briefen, Vermutungen, Interviews, Spekulationen, Klatschgeschichten und Bildern. Gelegentlich stößt der Leser auf einen Leitartikel, eine Landkarte, eine statistische Tabelle. Unter allen Mitteilungsformen kommt diejenige am seltensten vor, nach der das Magazin benannt ist: die schlichte Nachricht.
„Die Form, in der Der Spiegel seinen Nachrichtengehalt an den Leser heranträgt“, so heißt es im Spiegel-Statut, „ist eine Story“. Diese typische Darbietungsform bedarf einer genaueren Erörterung. Auf den ersten Blick scheint sie dem flüchtigen Leser Vorteile zu bieten: sie nimmt ihm synthetische Arbeit ab, indem sie den Stoff für ihn zerkleinert und die einzelnen Informationen zu einem eingängigen Ganzen ordnet. Dem Verfahren liegt eine atomistische Vorstellung von der Natur der Information zugrunde, derzufolge sich jede Nachricht in eine homogene Menge von Partikeln auflösen läßt . Wie aber wird die derart aufbereitete und homogenisierte Masse zur Story synthetisiert ?
Die Übersetzung in die Spiegelsprache genügt dazu nicht. Entfernt der Auflösungs-Prozess die Nachricht aus dem Kontext der Situation, aus der sie entsteht, so verwandelt die Synthese zur Story sie in ein pseudo-ästhetisches Gebilde, dessen Struktur nicht mehr von der Sache, sondern von einem sachfremden Gesetz diktiert ist. Jede Nachricht hat eine Quelle, die sich angeben läßt; Zeit, Ort und Urheber sind von ihr nicht ablösbar. Diese Angaben gehören deshalb zum unentbehrlichen Minimum jeder, auch der kleinsten Zeitungsmeldung. Im Spiegel fehlen sie, weil sie mit dem Prinzip der Story nicht vereinbar sind: Story und Nachricht schließen einander aus. Während die Nachricht im allgemeinen für Unterhaltungs-zwecke ungeeignet und kein Genuß- sondern ein Orientierungsmittel ist, stellt die Story ganz andere Bedingungen: Sie muß Anfang und Ende haben, sie bedarf einer Handlung und vor allem eines Helden. Echte Nachrichten ermangeln häufig dieser Eigenschaften: um so schlimmer für die Nachrichten !
Das Spiegel-Statut stellt die Unentbehrlichkeit des Helden ausdrücklich fest:
“Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch. Deshalb sollten alle Spiegel-Geschichten einen hohen menschlichen Bezug haben. Sie sollten von Menschen handeln, die etwas bewirken.“
Was unter einem „hohen menschlichen Bezug“ zu verstehen ist, bleibt dabei offen; die gleichzeitig hochtrabende und hinkende Formulierung läßt nichts Gutes ahnen. Auf den ideologischen Hintergrund des Story-Helden kommt das Spiegel-Statut nicht zu sprechen. Das amerikanische Magazin Time drückt sich in dieser Hinsicht deutlicher aus: „Nachrichten“, so heißt es dort, „entstehen nicht durch geschichtliche Kräfte oder Regierungen oder Klassen, sondern durch Individuen.“ Damit ist der Held gerechtfertigt.
Human interest, Stories aus Fleisch und Blut: solche Parolen gründen auf der Scheinwahrheit, dass Geschichten vom Einzelnen gemacht werden. Der primär gesellschaftliche Charakter historischer Erscheinungen wird mit einem Seitenhieb auf den marxistischen Klassenbegriff geleugnet. Die Anekdote bestimmt die Struktur einer solchen Berichterstattung; die Historie wird zum Histörchen.
Als demokratisch gibt sich eine solche Geschichtsauffassung zu Unrecht aus; denn der einzelne, dessen Interessen dem Kollektiv gegenüber sie wahrzunehmen vorgibt, ist keineswegs der einfache Bürger, sondern im Gegenteil der Prominente, der sich vor den anderen durch Erfolg und Macht auszeichnet, und dessen elitäre Vorrechte das Magazin noch bestätigt, indem es ihn als naturalistische Ikone auf seinem Umschlag präsentiert.
Diese Auffassung vom Einzelnen und seiner geschichtsbildenden Kraft erinnert eher an die totalitären Schlagworte vom Führerprinzip und vom Persönlichkeitskult als an die klassischen Maximen der Demokratie. Indessen ist dieser ideologische Aspekt des Helden wohl weniger redaktioneller Absicht zuzuschreiben als dem Zwang der Story-Form, die zur Darstellung historischer Sachverhalte ungeeignet ist. So wurde die ungarische Oktober-Revolution von 1956 im Spiegel zu einer Titel-Geschichte über Imre Nagy, der auch das Titelblatt ganz für sich alleine einnahm. Jeder aufständische Arbeiter hätte das historische Ereignis besser repräsentiert als dieser hilflose Mann.
So offensichtlich die Mängel der Story für die Zwecke der Berichterstattung sind, so sehr der Informationscharakter des Magazins unter dem Zwang seines Jargons leidet, sein Ruf als eines wohlunterrichteten Blattes hat darunter nicht gelitten. Das mag zunächst daran liegen, daß sich der Spiegel die Informationen, die er verarbeitet, allerhand kosten läßt. Im Gegensatz zu einem großen Teil der Tagespresse hat er sich nie damit begnügt, Fernschreiber anzuzapfen und sich auf das Material zu verlassen, welches die Nachrichtenagenturen liefern. Er hat von Anfang an und mit großer Konsequenz ein eigenes, sehr umfangreiches und gut funktionierendes Netz von Korrespondenten im In-und Ausland aufgebaut.
Diese Mitarbeiter haben sich ihrerseits nicht mit offiziellen und offiziösen Informationen zufriedengegeben; sie haben es verstanden, sich Zugang zu vertraulichen Nachrichtenquellen zu verschaffen.
Ferner verfügt das Magazin über ein einzigartiges Archiv. Mögen die Quellen des Spiegel auch zuweilen trübe sein, so sind sie doch in der Regel zuverlässig. Das Statut der Zeitschrift postuliert ganz eindeutig: „Alle im Spiegel verarbeiteten Nachrichten müssen unbedingt zutreffen.“
Um die Einhaltung dieses Grundsatzes zu sichern, hat die Redaktion ein eigenes System der Verifikation entwickelt. Jedes Manuskript wird, ehe es zum Satz geht, im Archiv der Zeitschrift einer Kontrolle unterworfen. Die Verifikation geschieht punktuell: jede einzelne Sachbehauptung wird auf ihre Richtigkeit hin geprüft. Die Kriterien sind rein logistischer Art: eine Behauptung kann mit Sicherheit richtig, mit Sicherheit falsch oder möglich sein. Das Training des Kontroll-Lesers läuft also darauf hinaus, den Text gegen den Strich zu lesen und die Zubereitung der Informationspartikel zur Story rückgängig zu machen.
Schon daraus geht hervor, wie wenig die Zuverlässigkeit, derer sich die Zeitschrift rühmt, dem Leser nützt: die Spezialisten im Spiegel-Archiv sind im Grunde die einzigen, die vermöge ihres Trainings in der Lage sind, den Informationsgehalt des Blattes zu analysieren. Das Postulat, alle darin verarbeiteten Nachrichten müssen zutreffen, gilt zwar vom Gesichtspunkt des Produzenten, nicht aber von dem des Lesers aus.
Wenn bei einer Umfrage im Jahre 1954 91% der teilnehmenden Leser der Meinung waren, Der Spiegel sei objektiv, so sind sie einer Täuschung erlegen. Objektivität nämlich ist ein Kriterium, das auf die Story schlechterdings nicht anwendbar ist. Maßgebend für das Gelingen einer Story ist einzig und allein ihr Effekt. Die Forderung nach Richtigkeit geht nicht, wie bei der Nachricht, aus ihrem Wesen hervor: sie wird von außen gar nicht richtig sein, sondern höchstens die in ihr verarbeiteten Details. Nur in diesem Sinn kann davon gesprochen werden, daß Der Spiegel die Wahrheit sagen will, ja muß. Nicht Richtigkeit, sondern Unangreifbarkeit wird ihm abverlangt, und zwar aus rein juristischen Gründen. Als falsch gilt in diesem Verstand nur eine Behauptung, die zu einem Rechtsstreit führen kann, der für die Zeitschrift aussichtslos wäre. Statt von Richtigkeit sollte man daher lieber von Un-Unrichtigkeit sprechen. Moralisch gesprochen ist jedoch eine doppelte Verneinung nicht, wie in der Logik, mit einer Bejahung identisch.
Kann sich die Story also nicht auf die Objektivität der Nachricht berufen, so fehlt ihr anderseits auch die Legitimation, die andere journalistische Äußerungsformen, wie die Glosse, der Kommentar oder der Leitartikel, für sich beanspruchen dürfen. In den Spalten der Zeitschrift selber tritt der Unterschied zutage, der hier zu machen ist. Die Leitartikel von Jens Daniel gehören zu den besten Leistungen der deutschen Publizistik dieser Jahre. Das Verfahren ihres Verfassers ist unangreifbar, mag er nun mit seinen Schlußfolgerungen Recht haben oder nicht. Sein Fall ist vollkommen klar: Er steht mit seinem Namen ein für das, was er sagt, und, was noch wichtiger ist, er nimmt für seine Äußerung keinerlei objektive Gültigkeit in Anspruch. Im Gegenteil: er wirkt gerade durch die entschiedene Subjektivität seiner Artikel, durch seine Überzeugung, durch sein Engagement. Niemals versucht er seine Deutung der Nachrichten als diese selbst auszugeben.
Genau aber das tut der Story-Schreiber. Er bleibt grundsätzlich anonym , er legt die Karten nicht auf den Tisch, er arbeitet aus dem Unsichtbaren. Das rührt nicht von seiner persönlichen Bosheit, sondern von den Gesetzen seiner Form her, die eine ästhetische Form ist.
Die Story ist eine degenerierte epische Form; sie fingiert Handlung, Zusammenhang, ästhetische Kontinuität. Dementsprechend muß sich ihr Verfasser als Erzähler aufführen, als allgegenwärtiger Dämon, dem nichts verborgen bleibt und der jederzeit, wie nur je ein Cervantes ins Herz des Don Quijote, ins Herz seiner Helden blicken kann. Während aber Don Quijote von Cervantes abhängt, ist der Journalist der Wirklichkeit ausgeliefert. Deshalb ist sein Verfahren im Grunde unredlich, seine Omnipräsenz angemaßt. Zwischen der simplen Richtigkeit der Nachricht, die er verschmäht, und der höheren Wahrheit der echten Erzählung, die ihm verschlossen bleibt, muß er sich durchmogeln. Er muß die Fakten interpretieren, anordnen, modeln, arrangieren. Aber eben dies darf er nicht zugeben. Er darf seine epische Farbe nicht bekennen. Das ist eine verzweifelte Position. Um sie zu halten, sieht sich der Story-Schreiber gezwungen, zu retuschieren, zwischen den Zeilen zu schreiben. Keine Publikation hat es in der Technik der Suggestion, des Durchblicken-Lassens, des Innuendo weiter gebracht als Der Spiegel.
Es ist nicht leicht, aus einer solchen Technik eine Tugend zu machen: allzu offensichtlich spekuliert sie auf die Neugier des Schlüsselloch-Guckers, allzu penetrant macht sie Neid, üble Nachrede und Schadenfreude zu ihren Verbündeten. Immerhin hat man dem Magazin, das sie gebraucht, da und dort zugute gehalten, seine kritische Haltung mache sie nötig: gewisse Tatsachen könnten eben nur zwischen den Zeilen öffentlich bekannt gemacht werden; und es sei besser, daß über sie andeutungsweise geschrieben werde als gar nicht. Das Argument richtet sich gegen die seriöse Tagespresse des Landes , von der es nicht zu Unrecht heißt, sie scheue sich „unangenehm aufzufallen“ . Der Ausdruck stammt aus dem Argot des Militärs als einer Gesellschaft, in der es vor allem zu parieren gilt.
Die Auffassung, Informationen von öffentlichem Interesse ließen sich nur zwischen den Zeilen publizieren, geht indes von ähnlichen Voraussetzungen aus. Wer so denkt, hält Zensur für eine Selbstverständlichkeit und hat sich mit ihr schon abgefunden. Er verzichtet darauf, von den Möglichkeiten der Demokratie jenen Gebrauch zu machen, der sie allein verwirklichen kann. Solche Vorsicht ist nicht nur überflüssig, sie ist verräterisch: ein Erbe des Faschismus, dessen der deutsche Journalismus sich nachgerade entledigen dürfte. ...
_________________ Gruß, Felix
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